Rekonstruieren als Arbeitsvorgang

Der Organismus als hydraulischer Weichkörper

Wie oben festgestellt, sind die Organismen im mechanischen Sinn hydraulische Weichkörper, weil die für Leben typischen chemischen Vorgänge nur in wässrigen Lösungen verlaufen und von einer flexiblen Hülle zusammengehalten werden. Was ihren Wandel anbelangt, so sprechen wir nur über „Die Evolution Hydraulischer Konstruktionen“ (W.F. Gutmann 1995).

Ein solcher Körper nimmt bei gleichförmiger Membran wegen des inneren Flüssigkeitsdrucks die Form einer Kugel an. Jede andere Form muss durch Fasern und durch starre Bauteile gegen die Kugelform erzeugt werden. Das gilt für technische Geräte ebenso wie für die Organismen. Es ist gleichgültig aus welchen Materialien die Hülle und die Füllung bestehen, so stellen die Zellen der Organismen, der Feuerwehr-Schlauch mit ihren Flüssigkeitsfüllungen, der Reis- und der Zuckersack mit ihren Granulat-Füllungen, und der Fahrradschlauch und die Seifenblase mit ihrer Luftfüllung den selben Bautyp dar, den der Architekt Frei Otto als „Pneu“ bezeichnete. Nur auf dieser Ebene kann  über den Wandel der Bautypen der Tiere argumentiert werden.

Die Baustoffe im speziellen Fall der Tiere sind Zellen und Kollagenfasern (elastisch oder mit Zugfestigkeit), die in der mehr oder weniger viskosen extrazellulären Matrix (ECM) liegen. Beide sind auf vielerlei Aufgaben spezialisiert und nehmen dementsprechend unterschiedliche Formen an.

Die explizit technische Sichtweise sei an einem konkreten Fall verdeutlicht: Wir beschreiben den Regenwurm als hydraulischen Körper mit rechts/links symmetrisch serial hintereinander angeordneten Flüssigkeitsräumen (zoologisch: die Coelome) und Querwänden die als Verspannungen wirken, Längs-, Schräg- und Ring-Fasern, die zugfest sind (Kollagenfasern) und solche die kontraktil sind (Muskeln), mit einem durchlaufenden Kanal (Darm), eine außen liegende Schicht von gekreuzten Kollagenfasern (Cuticula), – und wir beziehen so viele Details ein wie uns nötig erscheinen. Wir sprechen und argumentieren dann nur noch über diese Körperkonstruktion und ihr Funktionieren, d.h. ihre Arbeitsweise in sich selbst und gegenüber der umgebenden Welt, ihre ökologische Relation und schließlich reden wir über ihre Möglichkeiten sich allmählich zu wandeln.

Um die grundlegenden Linien des Tierreichs zu ermitteln, rekonstruieren wir das Urtier als die einfachst mögliche Konstruktion aus den zwei Bauteilen Zellen und gallertig gelagerte Kollagenfasern. Daran anschließend ist der Weg zu rekonstruieren, auf dem die verschiedenen Bautypen entstehen konnten. Die Tiere einer fernen Vergangenheit können nur als Konstruktionstypen dargestellt werden, aus denen die uns bekannten fossilen oder heute lebenden Tier-Bautypen hervorgegangen sind.

Tatsächlich sind die real existierenden heutigen und fossilen Tiere die Ausgangsbasis unserer Betrachtung: An ihnen untersuchen wir, wie der Konstruktionstyp zu beschreiben ist, – wie im Beispiel des Regenwurms oben erläutert. Die Dualität des Vorgehens ist typisch für alle historische Forschung: Man rekonstruiert auf der Grundlage heutiger Kenntnis einen Vorgang der Vergangenheit; der heutige Gegenstand ist damit zugleich Ausgangspunkt und Endpunkt des wissenschaftlichen Vorgehens.

Theorie und grafische Darstellung

In Begriffen der Wissenschafts-Philosophie sind diese Rekonstruktionen Modelle für Evolutionsverläufe. Nur sie können erstellt, diskutiert und gegebenenfalls durch Nachweis eines Fehlers falsifiziert werden. Die Beschreibung und der Vergleich real existierender heute lebender oder fossiler Tiere – und die daraus folgende Diskussion darüber – bleiben immer auf der Ebene des Naturalismus haften und können nicht auf die Ebene der Dynamik der Transformationen gelangen.

Die Ergebnisse dieser Arbeitsmethode, die in zahlreichen Arbeiten veröffentlicht wurden, sind in der Grafik des Posters zusammengefasst und visualisiert. Deswegen stehen im Zentrum lediglich Konstruktions-Zeichnungen für die Entwicklungslinien. Entlang des Randes sind reale Tiere dargestellt, deren Körperkonstruktion wir studiert und als Grundlage für unsere Rekonstruktion genommen haben; die realen Tiere wiederum sind das Ergebnis der rekonstruierten Evolutionsprozesse. Dieser Dualismus ist typisch für jede historische Forschung.

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