Der Stammbaum der Tiere / die Evolution der Tiere

Die Tradition

Die Ordnung der Dinge

Die Wissenschaftler hatten seit der Mitte des 18. Jh. die Vielfalt der Tiere, Pflanzen und Einzeller beschrieben und nach Ähnlichkeiten geordnet, so dass ein System von abgestuften Ähnlichkeiten entstand. Es hat den Zweck, die Gegenstände zu benennen und sich über sie verständigen zu können. Es erfüllt seinen Zweck trotz einer erheblichen Subjektivität darüber, was man als ähnlich empfindet. Nicht nur aus Neuzugängen, sondern auch daraus resultieren Verschiebungen des Systems, wie die als ärgerlich empfundene Änderung von Gattungsnamen. In den Grenzen von Beschreiben und Ordnen ist das Verfahren wissenschaftstheoretisch einwandfrei.

Haeckel – Die Umdeutung von Sein und Werden

Nach Erscheinen von Darwins Buch (1859) stellte sich für die wissenschaftliche Zoologie die Frage, wie man mit der Deszendenz-Theorie das Entstehen der Vielfalt der Tiere, Pflanzen und Einzeller erklären sollte. Die Lösung erschien naheliegend, indem man auf Vorhandenes zugriff, nämlich auf das bis dahin erstellte System der Tiere und Pflanzen. Dieses System muss den Verlauf der Evolution spiegeln, – so die Überzeugung.  Zudem, im allseits gängigen Denken in Fortschritt und Höherentwicklung mussten die einfachen Lebewesen die ursprünglichen und die komplexer gebauten die höher entwickelten sein, die aus den einfacheren hervorgegangen waren.

Ernst Haeckel, der für die Darwinismus-Rezeption in der Öffentlichkeit steht wie kein anderer, verbreitete mit Wort und Schrift und hervorragenden Illustrationen auch dieses Denken. Wenn es eine Abstammung der Tierarten gibt, so lässt sie sich in Form der bekannten Familien-Stammbäume anschaulich machen. Haeckel zeichnete in seiner Anthropogenie (1874) den ersten Stammbaum des Tierreichs, der auch den Menschen einschloss. Damit war die subjektive Ähnlichkeits-Ordnung umgedeutet zum Ergebnis des Evolutionsverlaufs, – wissenschaftstheoretisch unhaltbar und ein Irrtum von Langzeitwirkung.

Hennig – Die Formalisierung des Irrtums

Alle folgenden Stammbaum-Entwürfe beruhen auf der gleichen Arbeitsweise. Sie wurde als Phylogenetische Systematik (Hennig 1950) formalisiert und beherrscht heute den Hauptstrom der Forschung. Man hält für Evolutionsforschung, was in Wirklichkeit nichts anderes ist als traditionelle Systematik. Der Fehler Ernst Haeckels setzt sich fort. Allerdings wissen die erfahrenen Systematiker sehr wohl, wie subjektiv ein solches System zustande kommt und lehnen es ab, es als Evolutionsverlauf zu deuten.

Bruch mit der Tradition

„Der Evolutionsverlauf ist nicht mit dem Hinweis auf Ähnlichkeiten zu erklären. Er kann nur, wie jeder historische Vorgang, durch Rekonstruieren ermittelt werden.“ Mit diesem, in den historischen Wissenschaften selbstverständlichen Prinzip, hatten Wolfgang F. Gutmann und einige weitere Wissenschaftler, die meisten am Forschungsinstitut Senckenberg, Frankfurt, von den 1970er Jahren an die Haupt-Evolutionslinien  und den Bauplan des Ur-Tiers, von dem alle Linien ausgingen, rekonstruiert und 1992 erstmals als Poster-Grafik zusammengefasst.

Allerdings stieß die neue Sicht auf Ablehnung und fand nur wenig Beachtung. Sie wich zu weit ab von den traditionellen Stammbäumen, und von der alten Methode der Vergleichenden Morphologie mit der sie erstellt worden waren. Das Fachgebiet blieb bei der Idealistischen Morphologie, und – vor allem auch international – bei der Phylogenetischen Systematik. Die Frage der Anagenese, die Frage nach der Transformation, war und ist bis heute so weit aus dem Gesichtsfeld geraten, dass Arbeiten darüber als „outside-science“ bezeichnet wurden; (siehe hierzu Kapitel „Zur Geschichte der Frankfurter Theorie“).

Die praktische Folge war, dass die Arbeiten der „Frankfurter Crew“ in allen gängigen Zeitschriften nicht oder nur in Ausnahmefällen zur Publikation angenommen wurden, so dass hierfür nur die Zeitschriften Senckenbergs offen standen.

Die Moderne

Molekulargenetischen Untersuchungen der verschiedenen Bautypen der Bilateria brachten ein Ergebnis, das als revolutionär empfunden wurde und  als New Animal Phylogeny (Adoutte et. al. 1999, 2000, 2003) alsbald in die Lehrbücher einging: der Ur-Bilaterier muss metamer segmental gebaut gewesen sein. Die New Animal Phylogeny stürzte die traditionellen Stammbäume um, die nach alter Methode der Vergleichender Morphologie ermittelt worden waren, und bestätigte die Ergebnisse aus der Frankfurter Theorie.

Die Übereinstimmungen mit den Rekonstruktionen nach dem Frankfurter Arbeitskonzept sind frappierend, doch diese Rekonstruktionen gehen über den Bereich der Bilateria hinaus und erklären zudem die Herkunft der Ur-Bilateria und die der fünf Non-Bilateria – das heißt den Bereich, der als Deep Animal Phylogeny bezeichnet wird.

Im Gegensatz dazu sind die Arbeitsergebnisse der molekularen Forschung zur Deep Animal Phylogeny – zwanzig Jahre nach dem Erfolg der New Animal Phylogeny, die tatsächlich eine Deep Bilaterian Phylogeny ist – immer noch unsicher und im Fluss. Die Erklärung hierfür liegt in der Arbeitsmethode.

Die molekulare Forschung arbeitet auf der Basis der Phylogenetischen Systematik, die dichotomen Verzweigungen, „Schwestergruppen“ sucht. Nach den Frankfurter Rekonstruktionen stammen die sechs Haupt-Evolutionslinien des Tierreichs unabhängig voneinander direkt von einer einzigen Ur-Körperkonstruktion ab. Es gibt demnach unter den sechs Linien der Deep Animal Phylogeny keine Schwestergruppen.

Die zoologischen Ergebnisse der Frankfurter Theorie

Die urtümliche Tier-Körperkonstruktion aus Zellen und gallertig gelagerten Kollagenfasern, Gallertoid genannt, entstand durch innere Kompartimentierung eines mehrkernigen cilientragenden Protozoen-Bautyp. Von diesem urtümlichen Bautyp lassen sich alle Haupt-Evolutionslinien ableiten und  wir können die allmähliche Transformation ihres Körper-Konstruktion darstellen: Trichoplax, Ctenophora, Porifera, Coelenterata, Acoela, und Bilateria. 

Unter den Stammlinien der nicht bilateral gebauten Tiere steht Trichoplax als Abkömmling eines frühen Evolutions-Stadiums der Gallertoid-Entwicklung; die Rippenquallen (Ctenophora) sind die Giganten unter den Gallertoiden; die Schwämme (Porifera) und die Oktokorallen stehen den von Kanälen durchzogenen sessilen Gallertoiden noch nahe, die anderen Coelenterata (Medusozoa  und Anthozoa außer Octocorallia) sind weiter entwickelte Bautypen, und die beiden Bautypen der Acoela sind „bilaterale Non-Bilateria“.

Der urtümliche Bilaterier entstand als urtümlicher Coelomat mit bilateral neben dem Intestinaltrakt metamer angeordneten Coelomen. Es trennten sich  früh zwei Linien, deren ursprüngliche Namen hier wieder eingesetzt wurden. Die Gastroneuralia (Haupt-Nervenstrang ventral) (= sogenannte Protostomia) mit den Evolutionslinien der Chaetognatha, Ecdysozoa, Annelida, Platyhelminthes, und Mollusca. Die zweite Haupt-Linie der Bilateria sind die Notoneuralia (=Deuterostomia). Ihr Haupt-Nervenstrang verläuft dorsal, mit den drei Linien der Ambulacraria, den fossilen Conodonta. Und Chordata.

Als Poster-Grafik „Die Evolution der Tiere“ dargestellt und im Beiheft zusammenfassend erklärt (Grasshoff 2018) Deutsche Ausgabe. Schweizerbart, Stuttgart.

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