Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte

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Optimierung und Differenzierung hydraulischer Körperkonstruktionen. Die rekonstruierten Linien zeigen zum einen zunehmende Ordnung der kontraktilen Fasern, die zu einer deutlichen Effizienzsteigerung führen (Optimierung), als auch eine vollständige Umorganisation des Muskelgefüges, so dass eine grundlegend andere Körperkonstruktion resultiert. Hierbei handelt es sich um alternative Entwicklungslinien, um Differenzierungen.

Werden Organismen, wie oben beschrieben, als thermodynamische, Energie wandelnde, geschlossene Systeme begriffen, lassen sich bestimmte Rückschlüsse ziehen, wie sich diese Systeme im Laufe der Evolution verändern können. Denn das ist eine der zentralen Fragen: Wie überhaupt ist es möglich, dass Organismen im Laufe der Zeit, „im laufenden Betrieb“, ihre Konstruktion verändern? Schließlich gibt es in der Evolution keinen Zustand „wegen Umbau geschlossen“. Oder, um noch einmal den Vergleich mit dem Ingenieur zu bemühen, wie lässt sich ein Fahrrad umzubauen, während jemand darauf fährt?

Die neue Einsicht der Frankfurter Evolutionstheorie ist, dass Evolution nur im Rahmen funkionierender Abwandlungen verläuft. Alle Zwischenstadien müssen über Generationen hinweg voll funktionsfähig, d.h. bionom sein. Sie müssen sich selbst ernähren, bewegen und fortpflanzen können, sonst scheiden sie unverzüglich aus dem Evolutionsgeschehen aus. Alle dysfunktionalen Varianten, die notwendigerweise im mutativen Prozeß der Reproduktion und Individualentwicklung entstehen, gehen an sich selbst, an ihrer mechanischen Unzulänglichkeit zu Grunde, sie selektieren sich quasi selbst aus dem Evolutionsgeschehen aus. W.F. Gutmann sprach in diesem Zusammenhang von „Autodestruktion“, von Selbstzerstörung durch Dysfunktionalität der Körperkonstruktion[11][12][13].

Da konstruktionsmorphologische Forschungen eine Art technischer Funktionsbeschreibung der Lebewesen liefern, können mögliche Veränderungen ermittelt (rekonstruiert) werden, indem zwei potentiell evolutionsgeschichtlich miteinander in Beziehung stehende Organismen schrittweise ineinander überführt werden, wobei ständig Bionomie und Funktionstüchtigkeit der rekonstruierten Zwischenstadien geprüft werden müssen. Ebenso muss die Richtung der Veränderung begründet werden. Transformationen sind nur dann erfolgreich, wenn sie zu einer Differenzierung oder Spezialisierung einer bestehenden Körperkonstruktion führen, oder wenn die nachfolgende Konstruktion in irgendeiner Hinsicht ökonomischer funktioniert, also für bestimmte Leistungen z.B. weniger Energie oder Material benötigt wird als zuvor. Die maßgeblichen Kriterien evolutionsgeschichtlicher Rekonstruktion sind somit Optimierung, Ökonomisierung, Differenzierung und Spezialisierung. Der umgekehrte Weg, d.h. also die Veränderung einer Struktur , so dass sie in nachfolgenden Konstruktionen unökonomischer (also material- oder energieaufwändiger) funktioniert, wird aus thermodynamischen Gründen ausgeschlossen.

Gelingt es mit Hilfe dieser Rekonstruktionskriterien plausible Szenarien für die Evolution einer Tierkonstruktion in eine andere darzustellen, so ist das Ergebnis eine Evolutionslinie, welche die Evolutionsgeschichte (i.w.S. somit auch Stammesgeschichte) erklärt und begründet. Dabei setzt die Frankfurter Evolutionstheorie eine konturiertere Definition von Evolution an: Nur solche Veränderungen die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, die also irreversibel sind, sind evolutionäre Veränderungen. Wandlungen, die sich als reversibel erweisen (z.B. Schnabelformen oder Schnabelgrößen von Vögeln, Körpergrößen, Farben, etc.) repräsentieren keine Evolution, sondern stellen Verschiebungen von Markmalsausprägungen innerhalb von Populationen dar. Josef Reicholf bezeichnet dies als das „Grundrauschen“ oder „Oberflächengekräusel“ der Evolution[14].

Durch Wolfgang F. Gutmann sowie viele weitere Kollegen wurden in vergangenen Jahrzehnten entsprechende Ableitungen für das gesamte Tierreich erstellt und publiziert. Im Jahr 1992 wurden diese Einzelableitungen erstmals in einem zusammenfassenden Darstellung publiziert[15][16]. Im Jahr 2007 erschien die 4. überarbeitete und ergänzte Auflage der Darstellung, in der viele weitere Details und neue Evolutionslinien aufgenommen werden konnten[17] (für Einzelableitungen siehe unten stehenden Abschnitt: Weiterführende Literatur).

Die konstruktionsmorphologische Betrachtung von Lebewesen erschließt Evolutionsgeschichtsforschung (= Rekonstruktion der Evolutionslinien), indem zunächst Form und Funktion der Organismen erfasst werden, um dann mögliche (= funktionstüchtige) evolutionäre Wandlungen von unmöglichen (= dysfunktionalen) evolutionären Wandlungen zu unterscheiden.

Wir konnten Gallertoide als die ursprünglichen Lebewesen rekonstruieren, von denen alles zoologische Leben seinen Ausgang nimmt